Sara Decker

Sara Decker

„poetryfied“

VÖ-Datum: 04.09.2020

Du aber bist der Hafen: Nach umtriebigen Jahren in der New Yorker Jazzszene begibt sich die preisgekrönte Jazz-Sängerin und Komponistin Sara Decker mit ihrem neuen Studioalbum poetryfied auf Heimatsuche. Die Faszination für die Verschmelzung von Wort- und Klangkunst ist der Ausgangspunkt für Decker, sich auf diesem Album der Vertonung von Lyrik zu widmen, die ihr selbst viel bedeutet. Die Initialzündung dafür war die frühe Begegnung mit der Dichterin Mascha Kaléko, von der das Zitat eingangs stammt: „Ihre Lyrik begleitet mich seit meiner Schulzeit und ich war immer schon beeindruckt von der Klarheit und Kraft ihrer Sprache. Sie war im zweiten Weltkrieg aufgrund ihrer jüdischen Herkunft gezwungen, nach New York zu emigrieren. Ich kehrte wiederum von New York nach Deutschland zurück und Kalékos Gedichte halfen mir, wieder in meiner Sprache zu singen.“

Sara Decker schreibt mit poetryfied einen Emotionszyklus und beleuchtet darin wichtige Stationendes Lebens – ihres Lebens? Der Zyklus beginnt und endet ruhig, dazwischen folgt er Gefühlen,die sich unterschiedlichen Lebensabschnitten zuordnen lassen. Nicht chronologisch, sondernden subjektiven Erinnerungen nachgebend, fächert sich poetryfied auf. ,,Ich finde jeder Mensch hat eine Atempause verdient. poetryfied ist für mich ein Rückzugsort und hat viel mit Gefühlen von innerer Ruhe und Konstanz zu tun, die ich in den letzten Jahren auf einigen Umwegen gefunden habe. Diesen Ort will ich gerne mit meinen Zuhörer*innen teilen.“

Diese Ruhe ist gleich im wohlig zarten und kammermusikalischen Beginn des Albums zu hören. Die Vertonung von Kalékos Gedicht „Für Einen“ betont das Versichernde, Beruhigende ihrer Worte, die an den Lebenspartner, aber auch an ein Kind gerichtet sein können: Ich steure immer wieder her. Wie als Blick auf das weite Meer öffnet sich das Arrangement zum Klaviersolo hin in leichte Swing-Assoziationen, kehrt dann zur letzten Strophe und schließlich zur Schlusswendung in den sicheren Hafen zurück.

Wie in Zeitlupe beginnen Decker und Schlagzeuger Jeroen Truyen die Vertonung des Rilke- Klassikers „Der Panther“, in dem der Dichter die große Frage nach der Freiheit stellt. Man hört förmlich das große Tier vor den Stäben seines Käfigs hin und her gehen, bis sich klangmalerisch der Vorhang der Pupille zur Seite schiebt und mit einem kaskadierend aufbauenden Flügelhornsolo der Blick kurzzeitig frei wird ins Innenleben des Raubtiers.

Es schließt sich mit „Rondo M.“ ein kurzes Intermezzo an, die Komponistin stellt vokal eine komplexe Melodie vor, die sich mit einem Latin-Groove verbindet, bevor sie nun selbst ein Solo beginnt. Mit gestochen scharfer Intonation auch in der Chromatik gibt Decker hier Einblick in ihre stimmliche Flexibilität und Stilsicherheit.

Noch eine neue Stimmfarbe kann man anschließend in „I measure every grief“ entdecken. Zu schwerem, souligen Groove besingt Sara Decker rau und energetisch das Leid des lyrischen Ichs. Gekonnt streut sie in der Bridge 7/8 Takte ein, anschließend lockt Saxophonist Stefan Karl Schmid die Band aus der Zurückhaltung und bereitet den Weg zur auflösenden Schlussstrophe, in der die Dichterin Emily Dickinson das Universale und Verbindende des Leids hervorhebt. Ähnlich doppelbödig ist Rilkes Nenn ich dich Aufgang oder Untergang, auch hier klangmalerisch wiedergespiegelt von versteckten Taktwechseln. Ein Wiegenlied, immer wieder subtil gestört vom verlängerten Taktmaß – doch die Harmonie überwiegt, denn die Abende sind mild und mein, die Traurigkeit kann überwunden werden.

Die Frage nach Heilung spielt auch im Gedicht No one can stem the tide von Jane Tyson Clement die Hauptrolle. Hier lässt Decker ihrer Band viel Zeit, die Textstrophe bildet nach
langem Rubato von Klavier und flirrenden Flageolets im Kontrabass (Nicolai Amrehn) quasi einen Schlusschorus, bei dem sich Stimme und Flügelhorn mischen. Der tröstliche Inhalt des Gedichts von Jane Tyson Clement gipfelt in der wiederkehrenden Zeile What my heart makes of this the days will tell, wie mein Herz damit umgeht, wird die Zeit zeigen.
Wie ein Kind das Leben zu betrachten ist Gegenstand vieler romantischer Lyrik, so auch bei Rilkes Du musst das Leben nicht verstehen. Die Leichtigkeit des Tambourin-Rhythmus und Flöten-Geflatters (Julia Kriegsmann) wird von Deckers unbefangenen Vokalisen verstärkt und versetzt die Hörenden unmittelbar zurück in unbeschwerte Kindertage.
Die Komponistin bleibt mit Lullaby in der Perspektive der Kinder: Wie ein Schlaflied nach einem unbeschwerten Tag lässt sie ihre Band die Hörenden auffangen. Decker, mal badend in den Klangwolken ihrer Mitmusiker mal schwebend über der Szenerie, führt mit lang gehaltenen Tönen durch den Song.

Mit Teardrop erinnert sich Sara Decker schließlich an ihre Pubertät und vertont den Massive- Attack-Klassiker als Jazz-Version. Denn spätestens seit Songwriter Bob Dylan den Literaturnobelpreis verliehen wurde, können auch Songtexte aus der Popularmusik den Status von Lyrik haben. Das markante Riff (im Original Cembalo) spielen Klavier und Bass, Decker singt die Strophen leichtfüßig (fearless on my breath) – und klingt dabei sogar ein wenig wie Elizabeth Fraser in der Originalversion. Nach einem furiosen Klaviersolo einigt sich die Band auf einen schweren Halftime Groove, der die Ernsthaftigkeit des Textes noch deutlicher zeigt als die gleichförmige Drum-Machine der Originalaufnahme von 1998. Mit dem Schluss-Riff knüpft das Arrangement an den Beginn des Stücks an und erinnert auch an den zarten Anfang von Für Einen.

Und wie man ein Gedicht immer wieder lesen kann, um es tiefer zu verstehen, so ist poetryfied ein Album, dass man am besten man am Besten gleich zweimal hört.

Label: AMC Records
Katalog Nr. AMC202-2
Vertrieb CD: AMC Records
Vertrieb digital: Record Jet

Besetzung:

Sara Decker
(Gesang, Komposition – außer „Teardrop“ von Massive Attack)

Billy Test
(Klavier)

Nicolai Amrehn
(Kontrabass)

Jeroen Truyen
(Schlagzeug)

Gäste: Heidi Bayer (flh) Stefan Karl Schmid (ts) Julia Kriegsmann (fl)

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