Rocha

Ulisses Rocha

„White Wood“

VÖ-Datum: 25.01.2020

Es gibt Gitarristen, denen Musik dazu dient, ihre halsbrecherischen Fingerfertigkeiten zu präsentieren, um bestaunt zu werden wie Trapezkünstler. „stunt guitar“ hat Frank Zappa das mal genannt. Ulisses Rocha dagegen ist ein uneitler Virtuose. Nicht um den Musiker geht es ihm, sondern um – Musik. Sie um der Inszenierung willen zu beugen, ist undenkbar. White Wood, das neue Album des brasilianischen Akustikgitarristen, ist ein Ereignis besonderer Art.
Rocha ist Gitarrist mit Leib und Seele. Das Instrument ist ihm so nah wie ein Körperteil, die Zusammenarbeit ist hingebungsvoll, lässt Sinnlichkeit, Leib und Seele spüren. Rocha ist gleichermaßen Komponist; er nutzt sein Instrument, um wahrnehmbar zu machen, was ihm eingefallen ist. Ein hohes spieltechnisches Niveau ist schlicht Voraussetzung, um seine diffizilen, eingängigen Preziosen adäquat umzusetzen zu können. Wenn eine alleinstehende 32stel-Highspeed-Passage erscheint bei Ulisses, dann ist sie kurz, relevant für den Gesamtzusammenhang und so leicht wie ein Kleinkind ausatmet. Ein Vierteltakt Pause, eine winzige Septim-Phrase, ein auf den Punkt geschlagener Dur-Akkord: die Sorgfalt ist immer gleich groß. Kein Zweifel, keine Tricks, keine Overdubs. Es ist tatsächlich immer „nur“ eine Gitarre. EINE Gitarre.

„Calango“, der virulente Opener des Albums, setzt den Rezipienten ins Bild. Ein Aha-Erlebnis, leicht und behende, mit transparenten Glissandi, Bossa-Nova-Harmonien und Folk-Anmutungen. Ein kraftvolles Schwirren, differenziert, melodisch all inclusive. Fester Zugriff, gentle on his mind. „Rockt“, möchte man fast meinen, „geht ab“. Das melancholische „Delirío“ (dt. Delirium) ist ein subtiler, agogischer Balanceakt in kontemplativer Stimmung. Starkes Spiel, starker Ausdruck: „White Wood“ will kommunizieren. Das Wesentliche ist – Resonanz.

Ulisses Rocha (*1960 in Rio de Janeiro) ist einer der Großen in Brasilien, auch, wenn seine Musik den Jazzern oft zu traditionell und den Traditionalisten zu jazzig ist. Was ironisch erscheint, denn ihn als Grenzüberschreiter auf nur zwei Genres herunterzubrechen, wird ihm nicht gerecht. Rocha ist ein aktiver Kontra-Purist, der in keine Schublade passen will.

In den ‘90ern experimentierte er mit elektronischer Musik und New-Age-Ästhetik. Er arbeitete als Solist wie als Teamspieler, in Trios, Quartetten und Symphonieorchestern, mit Al Di Meola, Eliane Elias, Egberto Gismonti, Gal Costa u .a..

In seiner Musik verstoffwechselt Rochas unterschiedlichste Einflüsse und Stilistiken homogen zu einer eigenen, instrumentalen Spielart, die am ehesten der Música Popular Brasileira (MPB) zugeordnet werden kann, jener brasilianischen Populärmusik jenseits qualitativer, sozialer und stilistischer Regularien: Ein passendes Umfeld für den freigeistigen Künstler.

Aufgewachsen zwischen Samba, Bossa Nova, Tropicalia und Brazil-Jazz, bildet vor allem das große stilistische Erbe von Baden Powell, Vinicius Cantuaria, Caetano Veloso, Antonio Carlos Jobim u. a. brasilianischen Größen den Grundstoff für Ulisses’ eigene Musik. Er versteht dieses wunderbare, zersetzungsresistente Material instinktiv wie intellektuell, hat die Ästhetiken früh verinnerlicht, respektiert und nutzt sie ohne Hemmungen.

Dreht auf links, zitiert, spielt mit den Rahmenbedingungen. Eine beatle-eske Akkordfolge. Fado, Americana, ein bisschen Flamenco. Eine Melodie, die auf Stevie Wonder zu warten scheint. „Teu Sorriso“ hätte Sting gern geschrieben. Das jazzige „Tres Dedos“, leicht funky, hat Joe Sample im Subtext. „Jabuticaba“ ist Postrock am Strand, ein konzentrisches Kreisen. Die humorigen, ulkigen Phrasen in „Desatino“ (dt. Unsinn) mit der Eleganz eines Henry Mancini zu versehen, stellt ein besonderes Kunststück für sich dar.

Minutiös durchdacht und arrangiert, mit Intuition und Know-How zusammengefügt und in Bewegung gebracht, wirkt dieses komplexe Zeug trügerisch leicht in seiner Eingängigkeit. Wie im Fluss. Keine Tricks, keine Over-dubs, „nur“ eine Gitarre.

RolfJäger

Label: flavoredtune records
Katalog Nr. FTR361307
Vertrieb: Membran

Nur Vinyl!

Besetzung:

Ulisses Rocha
(Gitarren)

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